Der Preis berechtigt gleichzeitig zur Unsichtbaren Teilnahme an Unhörbaren Lesungen.
Die Erzählung ist Träger der Fast Unsichtbaren Schleife.
Melanie lebt mit ihrem Freund Andreas seit sieben
Jahren in einem im Sommer viel besuchten kleinen Badeort östlich von
Athen. Leute kommen zum Baden, fliehen vor der brütenden Zementwüste
des Zentrums. Im Herbst ist es dort leer, abgeschottet, tot. Ein paar Fischer
trocknen im Hafen ihre Netze in der Sonne, trinken ihren Anisschnaps zu
gegrilltem Tintenfisch.
Andreas ist meistens im Hafen. Dort kann er Freunde treffen,
reden, lachen, Bier und Anisschnaps trinken, rauchen, ohne, dass Melanie
ihn mit Vorwürfen und Bemerkungen stört. Melanie bleibt zurück
mit den Katzen. Seinen geliebten Katzen.
Nachts gegen halb zwölf kommt er zurück, riecht
nach Alkohol und Rauch und legt sich auf das Sofa vor den Fernseher. Er
spricht ein paar belanglose Worte mit Melanie, hört kaum zu, wenn
sie spricht, hört sich am liebsten selbst reden. Oder er hört
auf die Stimmen, die aus dem Fernseher kommen.
Wenn Melanie spricht, geht er zu den streunenden Katzen
auf der Veranda, füttert sie mit Trockenfutter, streichelt sie, geht
in die Küche, mischt sich ein Getränk. Cuba Libre. Wenn Melanie
spricht...
Heute ist Freitag und Andreas kommt um halb zwölf nach Hause, streicht kurz über Melanies Kopf, legt sich auf das Sofa vor den Fernseher, antwortet nicht, wenn Melanie spricht, es sei denn, Melanie wiederholt zweimal, was sie gesagt hat. Sie spürt ihr Herz unregelmäßig klopfen und eine Wut, die sich im Bauch und in der Brust zusammenbraut. Sie beißt die Zähne zusammen, dass ihr Kiefer schmerzt und ballt ihre Fäuste, dass sich die Fingernägel schmerzhaft in ihre Handballen graben. Du wirst was erleben, denkt sie.
Melanie spürt ihre Fingernägel tief im Fleisch ihrer Hände. Immer tiefer graben sie sich. Melanie hebt die rechte Hand, um zu sehen, ob sie blutet die Hand, so schmerzen die Nägel im Fleisch. Melanie hebt die Hand vor das Gesicht und sie sieht kein Blut, aber eine Pfote. Die Pfote einer Katze. Melanie will schreien entsetzt über ihre Hand, die plötzlich keine Hand, aber eine Pfote ist. Sie will, oh Gott schreien, aber sie stößt einen Laut aus, der nicht menschlich ist. Melanie stößt einen Katzenschrei aus, den Schrei einer Katze, die Schmerzen hat. Den Schrei einer Katze, die getreten wird.
Andreas dreht sich um. Sein Glas fällt auf den Boden, Scherben und eine schwarze Flüssigkeit verbreiten sich auf den weißen Kacheln. Andreas starrt auf die Scherben und auf Melanie, sein Gesicht weit aufgerissen.
Ein dunkles, glänzendes Fell überzieht langsam
ihren dünnen Körper, von unten nach oben. Melanie sinkt sanft
auf alle Viere. Sie reibt sich an Andreas’ Schienbein und schnurrt.
Andreas steht auf, geht mit unsicheren, wankenden Schritten
in die Küche. Seine Hände zittern. Er gießt sich Rum in
das Glas bis oben hin, ohne Eis, ohne Cola. Er führt das Glas an seine
Lippen, dabei läuft etwas Rum auf sein Kinn, auf seinen Hals, hinunter
auf sein Hemd. Er trinkt das Glas leer, auf einen Zug.
Als Andreas wieder in das Wohnzimmer geht, sieht er Melanie
unter dem Tisch auf dem hellen Teppichboden liegen. Sie hat ihre Augen
geschlossen, ihren Körper eingerollt und atmet tief und regelmäßig.
Andreas setzt sich auf das Sofa und trinkt einen Schluck
von seinem Getränk, ohne seinen Blick von Melanie abzuwenden. Melanie
erhebt sich plötzlich und springt auf seinen Schoß. Andreas
streichelt sie mit der Rückseite von Zeigefinger und Mittelfinger
zwischen den Augen, streicht über ihren Nacken, krault ihren Hals.
Melanie schnurrt mit geschlossenen Augen. Andreas schaltet den Fernseher
ein. Er lässt einen Film laufen, auf den er sich nicht konzentrieren
kann. Schüsse fallen, Blut läuft, Menschen fallen tot um. Dabei
streichelt und krault Andreas Melanie weiter. Das Eichhörnchen, so
nennen sie die Rotbraune mit dem buschigen Schwanz, kommt und will auch
auf Andreas’ Schoß. Melanie faucht und vertreibt das Eichhörnchen.
Gegen drei Uhr morgens fallen Andreas’ Augen zu. Er will nicht in das kalte, leere Bett gehen, das sonst von Melanie vorgewärmt wird. An den anderen Abenden kommt er, kuschelt sich an sie, Melanie liegt auf der Seite, er umarmt sie, sie beschwert sich darüber, dass er sie aufweckt und dann schlafen sie ein.
Andreas möchte Melanie mit ins Bett nehmen, er möchte
mit ihr schlafen, mehr denn je.
Andreas schläft auf dem Sofa ein. Melanie liegt
zusammengerollt zu seinen Füßen.
Am folgenden Morgen wacht Andreas verkatert auf. Im Bett. Sein Schädel fühlt sich wattig und schwer an, seine Augen verquollen, sein Magen übel, Schwindelgefühle, Weltuntergangsstimmung.
Melanie liegt neben ihm, beide Ellbogen seitlich ausgestreckt, auf dem Bauch, gleichmäßig atmend, in ihrem schwarzen, seidenen Nachthemd. Ihre dunklen Haare schimmern seidig auf ihrer olivbraunen Haut.
Andreas streichelt ihren Nacken mit der Rückseite
von Ringfinger und Mittelfinger. Er bemerkt, dass Melanies Nacken sehr
behaart ist. Er betrachtet ihren Nacken und entdeckt ein kleines, schwarzes
Haarbüschel auf dem letzten Nackenwirbel.
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